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  • Writer's pictureMiriam Strasser

Short Story: Ein Toilettengang im Oktober

Updated: Oct 8, 2022



Ich weiß ja nicht, ob es dir auch so geht. Manchmal da kommen mir die interessantesten Gedanken, nachdem ich am Klo war, beim Händewaschen. Geht dir das auch manchmal so?






Ich lebte gerade erst seit etwa zwei Monaten in Spanien, als ich einen deutschen Erasmus Studenten namens Leo kennenlernte. Spanisch sprechen hatte ich in den zwei Monaten schon recht gut gelernt, doch es war noch anstrengend für mich. So freute ich mich über diese deutschsprachige Bekanntschaft, die ich ab und zu besuchen konnte,

um mich in meiner Muttersprache auszutauschen.

Einmal besuchte ich Leo in seiner Wohngemeinschaft in der Innenstadt von Granada.

Die Wohnung lag im Dachgeschoß und hatte sogar eine Terrasse.

Die Wohnung hatte auch eine Heizung, was noch viel bemerkenswerter war, für Südspanien.

Es gab nicht viele Wohnung mit Heizung, und die meisten Spanier*innen konnten sich diese Wohnungen nicht leisten...

Auch ich hatte keine Wohnung mit Heizung, ich lebte in einer Höhle, die ich selbst wohnbar gemacht hatte. Natürlich hatte ich auch Hilfe gehabt, zum Glück.

Dank der helfenden Hände hatte ich gelernt:

Zement zu mischen, um den Boden zu machen, Kalk zu mischen, um die Wände zu kalken und wie man einen Türrahmen baut, um eine Türe einzusetzen.

Das war alles nicht so leicht gewesen, doch es hatte sich ausgezahlt – mit nur 80 Euro Materialkosten hatte ich mir mein eigenes kleines Heim errichtet.

Dort gab es keinen Strom und kein fließend Wasser.

Ich hatte eine Kochnische mit einer Campig–Kochplatte, die mit einer Gasflasche betrieben wurde, welche zwölf Kilo wog und wieder auffüllbar war, an Tankstellen. Meine Kochplatte hatte drei verschiedene Flammen, ich hatte sie am Flohmarkt gefunden und war sehr stolz darauf. Wenn ich kochte, heizte die Wärme meine kleine Höhle auf.

Wasser holen von der nächsten Quelle dauerte eineinhalb Stunden.

Es gab ein Plumpsklo im Freien mit Aussicht auf die Berge der Sierra Nevada.

Dieses einfache Leben gefiel mir und tat mir gut, doch ich freute mich auch über meine Bekanntschaften in der Stadt, die ich besuchen konnte, um manchmal richtig zu duschen und eine “Wassertoilette” zu benutzen. Die Wohnung von Leo war sogar im Winter warm, wegen der Heizung.


Als ich also Leo einmal im späten Herbst besuchte, tranken wir Tee, rauchten und wir unterhielten uns auf Deutsch. Meine Gedanken sprudelten nur so im Gespräch aus mir heraus, da ich schon lange nicht mehr in meiner Muttersprache gesprochen hatte, die mir so viel Sprachschatz anbot, um mich auszudrücken. Nach einer Weile schlug Leo vor, etwas für uns zu kochen und ich nahm das Angebot dankend an. Erst leistete ich ihm Gesellschaft in der Küche, bis ich auf die Toilette musste. Während ich auf dem Porzellanthron saß, wurde mir plötzlich ganz warm, und ich fühlte wie etwas metaphysisches in mir in Bewegung kam...

Es fühlt sich fast an, wie ein leichter Krampf in allen Muskeln gleichzeitig, innerlich ganz warm und schon ratterte es los, wie ein anstartender Motor, in meinem Kopf....

Ich hörte meinen Gedanken zu und fühlte mich wie in Trance dabei, während dem Händewaschen. So wankte ich schlafwandlerisch in die Küche zu Leo, der mir irgendeine Frage stellte, auf die ich nicht reagierte, sondern bloß: “Papier!?”, sagte.

Das brachte ihn etwas aus dem Konzept, mit Mühe konnte ich einen ganzen Satz formulieren: “Hast du ein Blatt Papier und einen Stift für mich?”.

Im Wohnzimmer sollte ich nachsehen.

Mich bedankend wankte ich aus der Küche ins Wohnzimmer, fand wonach ich gefragt hatte und setzte mich hin, um zu schreiben was ich in meinem Kopf hörte.

Es war ein Automatismus, mein Körper schrieb einfach, während ich dabei war und nicht einmal las, was mein Körper da geschrieben hatte. Danach fühlte ich mich entspannt und friedlich.


Als Leo zu mir ins Wohnzimmer kam, bat ich ihn den Text zu lesen da ich mir nicht sicher war, ob das, was ich geschrieben hatte, Sinn machte und verständlich war.

So gab ich ihm das Blatt Papier und er las den Text:




Zu Sein ist nur Schein denn es gibt kein Sein, es gibt nur Erscheinen.

Etwas ist wie oder was es erscheint zu Sein.


Durch die Betrachtung des Seins erzeugt seine Wahrnehmung den Anschein

und das ist dann was wir verstehen unter SEIN.

Jede Wahrnehmung erzeugt einen anderen Anschein

und so können wir uns nie ganz einig sein.


Wir bilden uns miteinander nur einen Reim denn jedes SEIN hat seinen eigenen Anschein

nimmt sich selbst wahr.

Dieser Anschein wird sich mit anderen Anscheinen vereinen

denn auch Andere nehmen unser SEIN wahr

und für Sie stellen wir einen anderen Anschein dar.


So vermengen sich die verschiedenen Strahlen des Scheinen

um sich im Glanz einer Persönlichkeit zu vereinen

und als DAS SEIN zu erscheinen.


Die Wahrnehmung wiederum besteht/entsteht aus eben jenem SEIN

durch dessen Betrachtung sie erzeugt seinen Anschein.


Ein Dreieck stellt sich ein:

SEIN – WAHRNEHMUNG – ANSCHEIN

Soll dies die Darstellung eines Anschein sein

oder beschreibt es das SEIN?


Und ist das, was manche religiöse von DREIFALTIGKEIT palabern,

für den selben Gedanken

nicht nur eine der vielen Metaphern?

Was steckt hinter den vielen verschiedenen

Sorten von unterschiedlichen Worten,

die wir Menschen so horten?


Seele, Aura, menschliches elektro-magnetisches Feld,

(Neuronenfeuer, Blutkreislauf),


das Licht, das die Dunkelheit erhellt,

die Hand, die hat geschaffen die Erde in sieben Tagen.


Versuchen nicht alle zu beantworten die gleichen Fragen?


#Epilog:

Leo: “Und das hat du jetzt gerade eben geschrieben, während ich in der Küche war?”

Ich: “Ja. Macht es Sinn?”

Leo: “Das macht total viel Sinn! Wahnsinn, solche Gedanken kommen dir, wenn du aufs Klo

gehst?”

Ich: “Manchmal, aber ich schreibe es nicht immer auf

und dann verschwinden sie oft wieder, ohne Erinnerung zu hinterlassen”

Leo: “Ich finde das ziemlich beeindruckend, ich meine das sind schon sehr komplexe

Gedankengänge. Ich denke nicht an solche Sachen, wenn ich aufs Klo gehe… denke

ich eigentlich nichts.”

Ich: “Naja, ich denke ja auch nicht gerade daran, also aktiv. Es denkt mich, oder sich selbst.”

Leo: “Du solltest es öfter aufschreiben, wenn dir solche Klogedanken kommen, wirklich.”

Ich: muss lachen.

Leo: “Was du da geschrieben hast, erinnert mich an den kritischen Rationalismus.”

Ich: “Davon habe ich noch nie gehört…”

Leo: “Das ist eine Theorie, ich glaube von Karl Popper aufgestellt. Sie besagt, dass alles

Wissen hypothetisch ist und alle Beobachtungen von hypothesen geleitet.”

Ich: “Wissen ist also eine Annahme die auf einer Annahme beruht? Oder eine Annahme die

auf der Annahme von Annahmen beruht… Ich sehe das Dreieck.”

Leo: lacht.

Ich: “Ich denke, in meinem Text geht es um das Ego und Fragen, die das Ego aufwirft. Es ist

ein Zustand in dem wir meistens sind, unsere ICH Wahrnehmung. Doch darunter liegt

noch etwas, das universale Gültigkeit besitzt: das Selbst. Damit meine ich vielleicht, was

“Erleuchtung” genannt wird im Hinduismus oder “Erlösung” im Christentum. Auch dafür

haben die Menschen viele Worte, wie “Erwachen” oder auch “Befreiung”. Es ist eine

Änderung des Bewusstseins, durch die das Dreieck gesprengt wird. Oder zumindest zum

Kreis gewandelt, wenn man sich doch noch einen Leserahmen behalten möchte...

Auch dafür könnte ich viele Worte zur Beschreibung finden. Wenn ich das auf die

Wissenschaft umlege, würde ich sagen das Wissen ist das Ego, das ICH und darunter

liegt die Weisheit, das SELBST. Wissen möchte immer mehr und kann nie zufrieden sein.

Es stellt ständig Fragen und sucht dann dauernd nach Antworten. Weisheit ist einfach

zufrieden. Sie lauscht der Intuition. Wissen ist immer in der Zukunft oder der

Vergangenheit, Weisheit ist Jetzt. Ich würde mir wünschen, wir Menschen würden mehr

nach Weisheit streben und nicht nach Wissen. Die Wahrheit liegt, denke ich, in der

Weisheit, nicht im Wissen.”

Leo: “Und das sagst du einem Lehramts-Studenten…”

Ich: “Unser Leben ist ein Traum und unser Ego ist Teil dieses Traumes. Als Traum ist es real,

aber eben nur auf der Traumebene. Sobald wir erwachen erkennen wir, dass es nur ein

Traum war und wir bleiben als Träumer* übrig und bemerken, dass die Person die wir zu

sein glaubten, ein Teil des Traumes wahr. Ich denke der Film “Matrix” befasst sich auch

mit dieser Thematik. Der “Träumer*” ist das, was wir wirklich sind. Im Film war das

nichts weiter, als eine “Batterie” für die Maschinen, die die Weltherrschaft

übernommen hatten und die Menschen träumen ließen. Luzid zu träumen ist wohl die

Verbindung von Weisheit und Wissen. Es ist erwachtes Bewusststein, welches träumt

und sich entscheiden kann, den Traum zu beobachten oder zu gestalten. Eine

Verbindung von Selbst und Sein. Ich denke, luzid träumen ist eine gute Art zu Leben.”

Leo: “Bei so viel Philosophie bin ich richtig hungrig geworden. Wollen wir jetzt essen?”

Ich: “Oh ja sehr gerne! Danke Leo, für deine Einladung. Es tut gut wieder einmal Deutsch

sprechen zu können und auch verstanden zu werden.”



©Miriam Strasser

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